Experten-Blog
Matching von Kooperationspartnern für resiliente Produktionsnetzwerke
Produktionsnetzwerke und Lieferketten sind durch globale Krisen in besonderem Maße betroffen. In diesem Blogbeitrag wollen wir daher die Herausforderungen auf dem Weg zu resilienten Wertschöpfungsnetzwerken betrachten: Was leisten diese, wie werden sie geknüpft und wie kann ein (teil-)automatisiertes Matching von Bedarfen und Angeboten über eine Kooperationsplattform unterstützen?
Seit über einem Jahr stehen unser Alltag, das gesellschaftliche Zusammenleben und die Wirtschaft im Zeichen der Corona-Pandemie. Der britisch-schweizerische Schriftsteller und Philosoph Alain de Botton beschreibt in seiner „School of Life“ die Resilienz, also das Durchhaltvermögen, schlechte Zeiten zu überstehen und Probleme zu überwinden, als eine von zehn Tugenden, die wir auch für die gegenwärtige Zeit benötigen. Werte wie Kollaboration, Zusammenhalt, Kommunikation und Vertrauen treten in den Vordergrund, resiliente Netzwerke – im Unternehmenskontext oder auch im Privaten – verbinden und stärken die einzelnen Partner, agile Lösungen ergänzen oder ersetzen die zur Makulatur gewordenen starren Pläne.
In diesem Blogbeitrag wollen wir uns mit resilienten Wertschöpfungsnetzwerken befassen: Was leisten diese, wie werden sie geknüpft und wie kann ein (teil-)automatisiertes Matching von Bedarfen und Angeboten über eine Kooperationsplattform dabei unterstützen?
In Produktionsnetzwerken stellen mehrere Unternehmen als jeweils autonome Organisationen über einen oft längeren Zeitraum gemeinsame Produkte her oder erbringen gemeinsame Dienstleistungen. Dies erfordert eine intensivere Kooperation, wobei jedoch nicht alle Akteure bei jedem Produktionsschritt beteiligt sind, sondern verbindlich dann beitragen, wenn dies in der Prozesskette erforderlich wird. Zum Teil stellen diese Netzwerke komplexe Gebilde als Teil umfassender Netzwerkarchitekturen dar und sind bspw. mit Informationsnetzwerken verknüpft.
Auch diese Produktionsnetzwerke unterliegen häufig dynamischen Schwankungen, ihre Umgebung und die Randbedingungen sind volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig (volatile, uncertain, complex, ambigious – VUCA). Traditionelle Wettbewerbsfaktoren wie Fertigungsqualität und Mitarbeiterproduktivität bleiben relevant, -reichen aber bei weiten nicht mehr aus, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Kunden agieren dynamisch mit „global sourcing“, Produkte werden bei steigendem Preisdruck komplexer und individueller, Marktbedingungen für international operierenden Unternehmen und Verbünde werden durch unterschiedliche Produktions- und Transportkosten, durch lokale Anreizprogramme, Local-Content-Vorgaben, Zölle und Steuern, Liberalisierung bzw. Deregulierung sowie Handels- und Wettbewerbsbarrieren, durch neue Sicherheits-, Nachhaltigkeits- und Umweltschutzauflagen sowie durch die jeweiligen Absatzpotentiale auf den teilweise gesättigten Märkten beeinflusst.
Herausforderungen
Ein Grundproblem moderner Produktionsnetzwerke und Lieferketten wird gerade durch die aktuelle Krise sichtbar gemacht: Diese global gespannten Ketten und Netze sind aufgrund ihrer Komplexität und enormen Transportwege und -zeiten selbst in hohem Maße fragil sowie reaktionsträge und dadurch störanfällig geworden! So führt der Wegfall einzelner Partner zum Fehlen ganzer Produktlinien. Jüngere Beispiele sind fehlendes Filtervlies für Atemmasken und auch Grundstoffe für Impfpräparate. Das gilt auch für die Substitution von Lieferengpässen wie die Nutzung von Trinkalkohol für Desinfektionsmittel. Dabei ist das schnelle Finden geeigneter Kooperationspartner essentiell für die Aufrechterhaltung der Produktion oder auch für deren Umstellung. Hier spielen neben Produkteigenschaften insbesondere auch Fähigkeiten im Umgang mit lokalen Gegebenheiten und Regulierungen eine große Rolle, Stichwort z.B. Alkoholsteuer.
Mit steigender Volatilität müssen Veränderungen der Umgebungsbedingungen aber schneller antizipiert oder erkannt und ihnen begegnet werden. Eine Folge davon ist, dass Lieferketten wieder zunehmend regionaler werden, Unternehmen auf mehrere, nahe gelegene Zulieferer setzen und die eigene Wertschöpfungstiefe anpassen. Diese Trends gilt es bei der Generierung der Produktionsnetze zu berücksichtigen.
Netzwerke bedienen sich oftmals eines Matchmaking-Prozesses zur Partnerfindung. Wie kann aber ein solcher Prozess teilautomatisiert ablaufen? Generell geht es beim Matching darum, auf Grundlage der von den Partnern des Netzwerkpools formulierten bzw. bekannten Eigenschaften, Angebote, Wunschvorstellungen und Bedarfe entsprechende Profile zu erstellen, diese mit den anderen Profilen in der Datenbank über einen passenden Algorithmus zu vergleichen und so die bestgeeigneten Kombinationen zu ermitteln. Das Maß an Komplexität ist dabei fließend und reicht von der Bewertung eines einzigen Merkmalsbilds per „Swipe“ nach rechts oder links bis hin zur Auswertung von dutzenden Fragen mit hunderten Auswahloptionen. Berücksichtigt beispielsweise eine bekannte Online-Börse mit 11-Minuten-Anspruch insgesamt 32 Merkmale, die aus ca. 80 Fragen mit 400 Antwortmöglichkeiten abgeleitet werden, um eine „Optimale 1:1-Relation“ zu finden, ist diese Aufgabe bei der Generierung und späteren Steuerung von Produktionsnetzwerken meist herausfordernder. Teilaufgaben und Herausforderungen (s. Bild), die sich dabei stellen, liegen…
· … in der Diskretisierung komplexer Anfragen und der (semantischen) Beschreibung von Kompetenzen, Leistungsangeboten und Bedarfen entlang der Wertschöpfungskette,
· … im Matching von Bedarfen und Angeboten zur Identifikation potenzieller Partner unter Berücksichtigung von Prämissen und Restriktionen sowie aktuellen Zustandsdaten der Wertschöpfungskette und ihres Umfelds,
· … in der Bewertung und Auswahl bestgeeigneter Matchingpartner, im Sinne einer Lieferantenauswahl als 1:n-Relation oder m:n zur Generierung von Clustern,
· … in der teilautomatisierten Verhandlung und Synchronisation im Netzwerk sowie bei
· … in der Kontrolle und Intervention in vernetzten Wertschöpfungsprozessen.
Zielsetzung und Forschungsbedarf
In den drei Fraunhofer-Instituten der beteiligten Autoren existieren bereits umfangreiche Vorarbeiten, z.B. zur dynamischen Komposition verschiedener Matcher, zur Modellierung von Wertschöpfungsnetzwerken und zum Aufbau und Betrieb von Unternehmensnetzwerken. Dennoch besteht weiterhin ein großer Forschungsbedarf bzgl. eines automatischen Matchings, welches auf der Basis von flexiblen Eingangsgrößen potentielle Partner im Internet identifiziert. Ein solches automatisches Matching würde daher einen wesentlichen Beitrag für die Resilienz der Produktionsstandorte liefern. Die Zielsetzung im vorliegenden Kontext ist somit das automatische Matching von passenden Angeboten von potentiellen Anbietern zu Bedarfen eines Nachfragers in Produktionsnetzwerken. Zu diesem Zweck müssen sowohl die Angebote als auch die Bedarfe entsprechend ihrer jeweiligen Inhalte sowie zwecks einer automatischen Verarbeitung möglichst formal beschrieben werden, und die jeweiligen Matcher funktionieren je nach den abzugleichenden Beschreibungen sehr unterschiedlich.
So haben wir initial Matcher aus drei Kategorien identifiziert, in denen jeweils verschiedenste Algorithmen einzusetzen sind. Dies verdeutlichen wir nachfolgend exemplarisch anhand einer beispielhaften Anfrage bestehend aus verschiedenen Aspekten für ein Produktionsteil des Produktes „Bambusfahrrad“, wobei die Anfragen und Angebote für alle Produktionsteile des Produktes dementsprechend weitaus mehr Aspekte berühren. Informell stellen wir uns einen Nachfrager im Sinne eines produzierenden Unternehmens vor, das mögliche Lieferanten für Bambusrohre mit folgenden Spezifikationen sucht:
Produkteigenschaften:
- Rohreigenschaft [10..12] cm: Durchmesser
- Bambuseigenschaft Durchfeuchtung: ≤10%
Fertigungsbezogen:
- Fertigungsverfahren: Laminieren, Kleben, Wasserstrahlschneiden, Sägen, Schleifen, Lackieren
- Fertigungsqualität: zugesichert erreichbare IT-Qualitäten
- Fertigungsmenge: realisierbare Stückzahlbereiche
Unternehmensportfolio:
- Bezugsland des Rohmaterials Bambus: Ghana
- Versandort des gefertigten Bauteils: ≤50km von eigener Produktionsstätte entfernt
Für das Matching von Angeboten zu jeder dieser inhaltlich sehr unterschiedlichen Anfragenaspekte muss jeweils ein spezifischer Matcher-Algorithmus eingesetzt werden. Die einzelnen Matcher sind zwar von ihrer jeweiligen Komplexität her überschaubar, die Herausforderung liegt allerdings in der Menge der zu implementierenden Matcher sowie insbesondere in ihrer dynamischen Komposition und der Aggregation ihrer jeweiligen Ergebnisse.
Neben diesen Herausforderungen bzgl. des eigentlichen Matchings, sehen wir des Weiteren den Bedarf an der Nutzung dezentraler Datenhaltung mit einem klaren Konzept zum Data-Ownership, wozu auch die Verantwortung bzgl. der bereitgestellten Daten gehört. Ein in allen Projekten wiederkehrende Herausforderung ist die vertrauliche Nutzung der Daten. Hier sehen wir einen „neutralen Broker“, der auf die dezentral bereitgestellten Daten zugreifen kann – ohne diese nach außen transparent zu machen. Damit ist insbesondere die Sicherheit der Kommunikation aber auch der Datenverarbeitung zu gewährleisten. Dabei muss insbesondere die Unterschiedlichkeit der Daten in ihrer Formalisierung berücksichtigt werden. Entscheidend ist auch die Entwicklung von generischen, anpassbaren Matchern, die gezielt neue Faktoren bei der Durchführung des Matchings berücksichtigen und flexible kombiniert werden können.
Ausblick
Für die optimale und einfache Gestaltung von resilienten Wertschöpfungsnetzwerken wurde von den beteiligten Autoren im Fraunhofer-Innovationsprojekt RESYST eine Roadmap zur systematischen Herangehensweise bei der Adressierung des hier skizzierten Forschungsbedarfs erarbeitet. Diese Roadmap schlägt unter anderem als Resultate eine Taxonomie und Use-Cases für verschiedene Matchingverfahren, ein Matching-Framework zur Integration und dynamischen Komposition verschiedener Matchingalgorithmen sowie Ansätze zur Auswertung von informell beschriebenen Anfragen und Angeboten vor und plant diese Ergebnisse in einem geeigneten Zeithorizont.
Ihre Experten
Jörg Holtmann, Frank-Walter Jäkel und Andreas Schlegel